Dieses Mal möchte ich Euch von Weihnachten im Jahr 1842 nach Eurer Zeitrechnung erzählen. Inzwischen hatte es mich nach London verschlagen, wo ich mir meine Heimat im Turm der Kirche St. George in the East gesucht hatte.
Es waren dies traurige Zeiten für uns Gargoyles, das heißt, für die wenigen von uns, die noch übrig waren. Seit einer Epoche, die Ihr Aufklärung nennt, hatten die Menschen den Glauben an alles Übernatürliche verloren und ließen nur noch das für wahr gelten, was man anfassen und messen konnte. Wir Gargoyles waren in Vergessenheit geraten, kaum jemand würdigte uns auch nur mehr eines Blickes. Es war, als hätten wir aufgehört zu existieren. Verschlimmert wurde unser Zerfall durch die komischen Maschinen, die Ihr Menschen zu erfinden und massenhaft einzusetzen begonnen hattet. Über den Städten lag Tag und Nacht beißender schwarzer Qualm, der selbst unserer harten Gargoylehaut schwer zu schaffen machte.
Ich glaube, Euch Menschen machte der Qualm auch zu schaffen. Wenn ich in der Dämmerung erwachte, sah ich völlig erschöpfte, hustende Gestalten nach Hause wanken und morgens waren viele von diesen Menschen schon wieder auf den Straßen, noch bevor ich mich schlafen setzte. Die Menschen, die ich beobachtete, schienen auch ständig in Eile zu sein, sie hasteten durch die Straßen, den Blick stur geradeaus gerichtet. Mir fiel außerdem auf, dass mehr Menschen als zuvor überhaupt kein Zuhause zu haben schienen. Diese Menschen übernachteten in Hauseingängen oder unter Brücken und sahen sehr unglücklich aus.
In diesen traurigen Zeiten also öffnete ich eines Abends die Augen und schüttelte die Schlafstarre von mir ab. Es war wieder einmal Heiliger Abend und ruhiger auf den Straßen. Ich spreizte meine Flügel und zog los, um zu sehen, ob ich vielleicht irgendwo ein wenig an den Feierlichkeiten teilnehmen konnte. Aus vielen Häusern hörte ich Gesang, Weihnachten war eine der wenigen Zeiten, wo sich noch etwas Fröhlichkeit ausbreitete. Fast überall fand ich die Fensterläden jedoch verschlossen vor und so zog ich alleine von Haus zu Haus.
Endlich fand ich ein Haus, bei dem die Fensterläden noch geöffnet waren und in dem eine große Familie ausgelassen feierte. Ich ließ mich auf dem regennassen Dach gegenüber nieder und gab mich der festlichen Stimmung hin. Es duftete nach Gans und Bratäpfeln, an einem kleinen Weihnachtsbaum brannten Kerzen und die ganze Familie sang Weihnachtslieder, vom Vater auf der Mundharmonika begleitet. Es dauerte nicht lange, bis ich begann, die Melodien mitzubrummen. Als sie dann „We Wish You A Merry Christmas“ anstimmten – eines meiner Lieblingslieder – konnte ich mich nicht mehr halten und tippte den Takt mit beiden Vorderpfoten mit. Das war keine gute Idee, denn auf dem feuchten Dach geriet ich ins Rutschen und polterte bis zur Regenrinne hinab. Die Familie unterbrach ihren Gesang und ein Dutzend Augenpaare starrte zum Fenster hinaus. Ich konnte mich gerade noch hinter den Schornstein flüchten, bevor der Vater ans Fenster trat, einen misstrauischen Blick die Straße hinunter warf und dann die Läden zuschlug. Ich wartete noch eine Weile, aber der Gesang setzte nicht wieder ein, vermutlich hatten sie mit der Bescherung begonnen. Und ich war wieder allein in der Nacht.
Als jetzt die Glocken zu läuten begannen, beschloss ich, nach Hause zu fliegen. Bald nach dem letzten Glockenschlag erreichte ich meinen Turm und setzte zur Landung im Südfenster an. Als ich meine Klauen schon nach dem Fenstersims ausgestreckt hatte, ließ ich mich plötzlich zurückfallen und blieb wie erstarrt auf dem Dach unterhalb sitzen. Da war ein Mensch in meinem Glockenturm! Ich hatte ihn gerade die letzten Treppenstufen hochkommen sehen und jetzt steckte er den Kopf zum Fenster hinaus. Ich erkannte, dass es sich um ein Mädchen handelte, acht oder neun Jahre alt vielleicht. Hoffentlich hatte sie mich nicht gesehen. Obwohl ich so reglos dasaß, wie es nur Gargoyles können – und Katzen –, schlug mein Herz so laut, dass ich fürchtete, es könne mich verraten. Was machte dieses Mädchen auf meinem Turm, noch dazu am Heiligabend?
„Wie schön, dass die Turmtür unverschlossen war“, sagte das Mädchen und ich wunderte mich, mit wem sie sprach. Doch dann zog sie etwas aus ihrer Jacke und setzte es vor sich auf den Fenstersims. Es war ein kleiner Hund, genauso dreckig und strubbelig wie das Mädchen.
„Sieh nur, Pünktchen, von hier aus kann man fast die ganze Stadt überblicken und an klaren Tagen sogar darüber hinaus. Eines Tages werde ich ein Pferd haben und dann reiten wir zwei aufs Land und ganz weit weg von hier.“
Das Hündchen sah sie an, als hätte es ihren Worten genau zugehört.
„Ich bin ja so froh, dass du jetzt bei mir bist, Pünktchen“, fuhr sie fort und streichelte dem Tier über den Kopf, „nun bin ich nicht mehr alleine. Du bist jetzt meine Familie. Und ein Zuhause werden wir auch noch finden, das ist mein Weihnachtswunsch für nächstes Jahr!“
Kein Zweifel, dieses Mädchen war eins der vielen Straßenkinder. Ihre Worte berührten mich. Ich wusste, was es heißt, alleine zu sein, aber ich war ein Gargoyle und sie noch ein Kind. Armes Ding!
„Schau nur, Pünktchen, da sitzt ja ein kleiner Wasserspeier. Der ist mir noch nie aufgefallen.“
Ich hielt die Luft an und ermahnte mich, nicht zu blinzeln, als sie genau auf mich deutete.
Wieder streichelte sie das Hündchen. „Er sieht irgendwie traurig aus, findest du nicht? Er sitzt dort so ganz alleine, bestimmt ist er auch einsam. Niemand sollte an Weihnachten alleine sein.“
Dass dieses arme Kind mit mir, einer bloßen Statue, Mitleid hatte, rührte mich zutiefst. Ich spürte, wie es in meinen Augenwinkeln kribbelte, und ohne dass ich es hätte verhindern können, rollten mir zwei Tränen die Wangen hinab. Auf einmal sprang das Hündchen dem Mädchen davon und lief direkt auf mich zu. Auch wenn es sich um einen kleinen Hund handelte, war er doch so groß wie ich. Als er mir nun mit seiner nassen Zunge mitten über das kalte Gesicht schleckte, war das daher zu viel für mich. Erschreckt sprang ich rückwärts und flatterte wild mit den Flügeln.
Offensichtlich erschreckte meine plötzliche Bewegung das Hündchen jedoch ebenso sehr, wie es mich erschreckt hatte, und auch es machte einen Satz rückwärts. Anders als ich hatte der Hund jedoch keine Flügel, um sich abzufangen, und so rutschte er auf dem feuchten Dach weg. Ich zögerte einen Moment, doch der ängstliche Ruf des Mädchens nach seinem Hündchen nahm mir die Entscheidung ab. Ich flog dem Hund hinterher und bekam ihn genau an der Dachkante zu fassen. Und da er zwar genau so groß war wie ich, aber trotzdem viel leichter, trug ich ihn mühelos zum Fenster, wo ich ihn in die ausgestreckten Arme des Mädchens plumpsen ließ, das ihn sofort an sich drückte. Ich selbst blieb unschlüssig in der Luft hängen.
„Danke!“, sagte das Mädchen und musterte mich neugierig.
Ich murmelte etwas wie „Gern geschehen“, und hing noch immer flatternd vor dem Fenster.
Eine Weile starrten wir uns einfach nur an, dann trat das Mädchen einen Schritt zurück. „Möchtest du vielleicht landen?“
Ich ließ mich auf dem Fenstersims nieder.
„Was bist du?“, fragte sie nach einer weiteren Weile des Schweigens.
„Ich bin Gondolin“, entgegnete ich, „und ich bin ein Gargoyle. Und du, hast du auch einen Namen?“
„Ich heiße Marie … und bin ein Mädchen“, fügte sie hinzu, offenbar nicht sicher, ob ich wusste, was sie war.
„Hallo Marie. Und hallo Pünktchen. So heißt doch dein Hund, oder?“
Marie nickte. „Tut mir Leid, dass Pünktchen dich so erschreckt hat. Er wollte dir nichts tun. Ich glaube, er wollte dich trösten. Du sahst so traurig aus.“
„Ich …“, mir versagte die Stimme. „Ich weiß, dass er mir nichts tun wollte“, sagte ich schließlich. „Marie? Du hast vorhin gesagt, du hoffst, irgendwann ein Zuhause zu finden. Ich weiß, ein Kirchturm ist kein Zuhause für einen Menschen, aber vielleicht, solange bis du einen richtigen Platz gefunden hast, kann ich mein Zuhause mit dir teilen. Ich würde mich jedenfalls freuen, dich und Pünktchen zur Gesellschaft zu haben.“
„Du würdest dein Zuhause wirklich mit uns teilen?“ Marie begann zu strahlen. „Das ist so lieb von dir! Pünktchen und ich werden dich ganz oft besuchen kommen. Und dann kannst du uns von all den Orten erzählen, die du schon gesehen hast. Und dann sind wir eine richtige Familie …“
Wärme stieg in mir auf. Unter anderen Umständen hätte ich den Kopf geschüttelt: ein Menschenkind, ein Straßenhund und ein Gargoyle – was für eine Zusammenstellung. Aber in diesem Moment klang das Wort Familie so erfüllend, wie sonst nur das Messegeläut der Glocken. Ich lächelte glücklich.
Und wie wir so am Kirchturmfenster standen, Marie, Pünktchen und ich, und unseren Blick über die Dächer schweifen ließen, da fielen die ersten Schneeflocken vom Himmel und betteten sanft unsere Stadt zur Ruhe.
Euer Gondolin
PS: Dieses war nun die letzte Geschichte meiner Weihnachtserlebnisse, die ich Euch dieses Jahr erzählen möchte. Ich hoffe, Ihr hattet ein wenig Spaß damit und habt etwas über uns Gargoyles gelernt. Daniela und ich wünschen Euch frohe Weihnachten im Kreise Eurer Liebsten und dass keiner von Euch alleine feiern muss.