Im Jahr 1651 war es uns Gargoyles seit rund 200 Jahren verboten, uns den Menschen zu zeigen. Als die kirchliche Inquisition angefangen hatte, gezielt alles zu jagen, was ihr nicht in den Kram passte – darunter natürlich auch wir – hatten wir uns endgültig zurückgezogen. In England, wo ich lebte, hatte die katholische Kirche zwar kaum noch Einfluss und es gab dort keine Inquisition, dafür setzte ein Forscherdrang ein, der dazu neigte, alles zu sezieren, was ihm in die Finger kam. Gargoyles waren da keine Ausnahme. So hatten wir also keinen Kontakt mehr zu den Menschen und blieben unter uns. Aber durch die lange Verfolgung waren wir deutlich weniger geworden und lebten zurückgezogen, sodass wir genau genommen meist ganz alleine blieben.
Auch für die Menschen war dies keine leichte Zeit. Die Christen konnten sich nicht einigen, wie ihre Religion ausgeübt werden sollte, und so litten die Menschen seit Jahrzehnten unter Kriegen und wechselnder religiöser Verfolgung.
Die letzten Jahre hatte ich Weihnachten alleine verbracht, vielleicht einmal heimlich einer Christmesse zugeschaut oder war auf dem Klang des Messegeläuts gesegelt, hatte aber ansonsten wenig weihnachtliche Stimmung genossen. Dieses Jahr wollte ich das ändern. Wenn ich schon nicht mit Menschen feiern konnte, dann wollte ich eben mit anderen Gargoyles feiern.
So machte ich mich also ab Ende November jede Nacht auf, die verbliebenen Gargoyles im Umkreis von London aufzusuchen. Aber wen ich auch fragte, man brachte meiner Idee wenig Begeisterung entgegen. „Sollen doch die Menschen ihr verlogenes Fest feiern!“, hieß es meistens. Nur zwei bekundeten Interesse an einer Zusammenkunft. Eine Woche vor dem Heiligabend saß ich entmutigt auf dem Big Ben und verspürte so gar keine Lust, mir weiter die Flügel wund zu fliegen, nur um eine Absage nach der anderen zu erhalten.
Da rauschte auf einmal ein Schatten heran und fiel mir um den Hals. „Gondolin, du bist es wirklich!“
Ich blickte die Putte an, die mich umarmte. Meine Augen weiteten sich. „Gabriel?“ Ich erwiderte die Umarmung meines alten Freundes. „Wie schön, dich wiederzusehen!“
„Ich habe gehört, du willst eine Weihnachtsfeier organisieren. Das finde ich eine tolle Idee und ich werde auf jeden Fall dabei sein.“
„Das ist lieb“, erwiderte ich, „aber ich glaube, daraus wird nichts. Die anderen haben kein Interesse.“
Gabriel zwinkerte mir zu. „Ach, lass mich nur machen. Ich kenne ein paar weniger mürrische Zeitgenossen. Und William, der mir von deiner Idee berichtet hat, hat vorgeschlagen, einen Brauch der Menschen zu übernehmen. Sie nennen ihn Julklapp. Dieser Brauch hat mit Geschenken zu tun und ich bin sicher, dass die anderen daran durchaus Interesse haben.“
Ich ließ mich von Gabriels Enthusiasmus anstecken und so flogen wir beide los, um Einladungen auszusprechen. Tatsächlich hatten wir am vierten Advent, drei Tage vor Weihnachten, eine Reihe von Zusagen und einen Ort, an dem wir uns treffen konnten.
Glöckner, ein weiterer Freund von Gabriel, hatte uns seine Kirche angeboten. Es war eine kleine Kapelle außerhalb des Örtchens Stratford-upon-Avon, die im Zuge religiöser Streitigkeiten geplündert und dann aufgegeben worden war. Wir ließen also die Nachricht verbreiten, wo wir uns treffen würden, und begaben uns zu der Kapelle, um sie für die Feier vorzubereiten. In den nächsten Tagen räumten wir die Trümmer beiseite, stellten umgekippte Statuen wieder auf und schmückten die Kirche mit Kerzen, Laternen und Tannenzweigen. Sogar eine Krippenszene bastelten wir aus Heiligenfiguren, Stroh und Holz und allem, was wir sonst noch fanden.
Am Heiligen Abend gegen zehn Uhr nachts läutete Glöckner die Kirchenglocken, damit alle Gargoyles, die uns suchten, uns auch finden würden. Gabriel, William und ich zündeten die Lichter an, machten es uns gemütlich und lauschten dem kunstvollen Glockenspiel.
Es dauerte nicht lange, bis die ersten eintrafen. Es dauerte ebenfalls nicht lange, bis der Warnruf „Menschen“ erscholl. Einer der Gargoyles, die gerade ankamen, berichtete, dass er Menschen gesehen hatte, die sich auf dem Weg hierher befanden, angelockt vom Läuten der Glocken. Wir schauten uns etwas betreten an, mit dieser Möglichkeit hatten wir nicht gerechnet. Noch bevor wir uns entschieden hatten, wie wir darauf reagieren wollten, ließ uns ein weiterer Warnruf auf die Orgelempore verschwinden.
Kurz darauf knarrte die Tür und zwei Männer traten zögernd ein. Staunend blickten sie sich um.
„Was ist das?“, fragte der jüngere von beiden. „Die Kirche war doch seit Jahren verlassen. Wer hat hier aufgeräumt, geschmückt und all die Lichter angezündet?“
„Ist da jemand?“, rief der ältere in die Kirche hinein.
Wir schwiegen, doch auf einmal erklang aus Richtung des Altars eine Stimme: „Tretet näher und fürchtet euch nicht, denn es ist Weihnacht. Friede sei auf Erden.“
Glöckner neben mir blickte mich erstaunt an und auch ich brauchte einen Moment, bis ich die Stimme Gabriels erkannte. Ich hätte beinahe laut losgelacht.
Der ältere Mann umfasste eindringlich die Schultern des anderen. „Geh, Junge, und sag im Dorf Bescheid, dass in St. John ein Wunder geschieht. Ich werde hier warten und für uns beten.“
„Ja, Vater“, nickte der jüngere und eilte davon.
„Was hast du nun vor?“, wollte William von Gabriel wissen, als dieser bei uns gelandet war. „Es werden bald eine ganze Menge mehr Menschen hier auftauchen.“
Unwilliges Gemurmel erhob sich, das den Mann, der vor dem Altar zum Gebet niedergekniet war, erschrocken aufblicken ließ. Aber Gabriel zuckte unbekümmert mit den Schultern. „Abwarten, was geschieht. Vielleicht werden heute Menschen und Gargoyles wieder einmal gemeinsam feiern. Freilich ohne das Wissen der Menschen.“
Es dauerte tatsächlich nicht lange, bis die nächsten Menschen eintrafen, eine kleine Gruppe, die Glöckner als Gemeinschaft von Katholiken erkannte. Er erzählte, dass sie sich gelegentlich heimlich hier trafen, da ihre Glaubensrichtung gerade wieder einmal zu den verfolgten gehörte. Sie fragten den Mann am Altar, ob er auch die Glocken gehört habe, und nach seinem Bericht knieten auch sie voll Ehrfurcht zum Gebet nieder.
Immer mehr Menschen kamen und knieten vor dem Wunder unserer Weihnachtsdekoration. Keiner von ihnen rührte unsere Julklappgeschenke an, die wir im Stroh der Krippenszene abgelegt hatten, wenn auch manche von ihnen sich über den Haufen zu wundern schienen. Da auch noch vereinzelte Gargoyles eintrafen, wurde ich nach draußen geschickt, um diese rechtzeitig abzufangen und heimlich zu uns zu führen.
Schließlich legte sich Stille über die Anwesenden. Die Menschen knieten alle andächtig in Richtung Altar und beteten und wir beobachteten sie dichtgedrängt auf der Orgelempore. Da ließ sich Gabriel im Schutz des großen Holzkreuzez mit Jesus daran zum Altar hinab, auf dem wir zwei Kerzen entzündet und eine Bibel aufgeschlagen hatten.
„Fürchtet euch nicht!“, sprach er in die Stille hinein. Ich glaube, er liebte es, derart als Engel aufzutreten, nach deren Abbild er erschaffen worden war.
Die Menschen blickten in seine Richtung, konnten aber höchstens Schemen seiner kleinen Flügel erkennen.
„Und es begab sich aber zu der Zeit, da der Kaiser Augustus den Befehl erlassen hatte, dass alles Volk gezählt werde …“
So las Gabriel die Weihnachtsgeschichte und Puritaner, Anglikaner, Katholiken und wie sie alle heißen sowie Gargoyles lauschten ihm. Als er geendet hatte, stand jemand auf, verneigte sich vor Jesus und sprach ein Dankgebet. Dann stimmte jemand ein Weihnachtslied an, in das die Gemeinde und auch wir einfielen. Gesang, Erzählungen und Stille wechselten sich ab, bis Gabriel den Menschen mit einem: „Ziehet in Frieden“, bedeutete, dass die „Messe“ beendet sei. Die Menschen antworteten mit einem „Amen“ und machten sich, begleitet von den Kirchenglocken, auf den Heimweg.
Als der letzte von ihnen gegangen war, schloss William die Kirchentür und wir verließen erleichtert unsere Empore. Als Glöckner dann aufhörte, zu läuten, rief ich laut: „Geschenke!“, und alle feierlich-erhabene Stimmung war dahin. Wir stürzten uns auf die Geschenke und verbrachten den Rest der Nacht lachend und plaudern und endlich wieder einmal überhaupt nicht mehr alleine.
Euer Gondolin