Weihnachten mit Gondolin: Mein erstes Weihnachten

Gargoyle Gondolin mit weihnachtlicher Schleife um den Hals

„Ich hätte auch so gerne ein Geschenk, aber ich weiß nicht, ob ich dafür brav genug gewesen bin.“

Heute will ich Euch von meinem ersten Weihnachtsfest erzählen, im Jahre 768 in den schottischen Lowlands. Damals war ich noch sehr jung, selbst für menschliche Verhältnisse, und ich hatte noch längst nicht alle Eigenheiten der Menschen kennengelernt, geschweige denn verstanden.

Es war dies eine Zeit, in der die Menschen noch ganz selbstverständlich mit uns Gargoyles verkehrten, zumindest auf den Britischen Inseln. Auch die Ausbreitung einer neuen Religion, die sich Christentum nannte, änderte daran zunächst nichts. Und so hatten wir Gargoyles auf der Burg, auf der ich damals lebte, uns gut mit deren neuen Bewohnern arrangiert, die, wie Gwenwyn mir erzählte, Christen waren.

Als die Diener einige Wochen vor der Wintersonnenwende begannen, die Wohnhalle mit Tannenzweigen zu schmücken, dachte ich mir nichts dabei, das hatten die vorigen Bewohner auch getan. Aber an einem Sonntag brannte plötzlich eine besonders schöne, große Kerze auf einem Tannengesteck auf dem langen Tisch, deren Licht viel steter brannte als die flackernden, blakenden Flämmchen der einfachen Talgkerzen. Ich fand das helle, warme Licht dieser Kerze wunderschön und die Menschenfamilie anscheinend auch, denn sie saßen alle andächtig um die Kerze herum und der Vater sprach in einem Singsang. Gwenwyn, eine weise und erfahrene Gargoyle, die für mich so etwas wie eine Mutter war, erklärte mir, dass die Familie bete. Ich fand es einleuchtend, in dieser kalten, dunklen Jahreszeit zum Licht zu beten.

In den nächsten Tagen war nicht zu übersehen, dass Thomas und Maria, die beiden Kinder der Familie, wegen irgendetwas immer aufgeregter wurden. Thomas war fünf und Maria sieben, ich war also nicht viel älter als die beiden. Seit es dunkel wurde, bevor die beiden ins Bett mussten, liebten wir es, zu dritt durch die Burg und das Umland zu toben. Jetzt ließ ich mich vom Übermut der Menschenkinder anstecken. Es hatte geschneit und wir lieferten uns eine wilde Schneeballschlacht im Küchengarten.

„Bald ist Weihnachten!“, rief Thomas begeistert und warf einen Schneeball nach seiner Schwester.

So oft hatte ich sie das in den letzten Tagen sagen gehört. Ich schüttelte eine Ladung Schnee von einem Apfelbaum auf sie herab und ließ mich vor ihnen auf einen Stein plumpsen. „Was ist denn nun dieses Weihnachten?“

Thomas und Maria sahen erst mich, dann den jeweils anderen, dann wieder mich mit großen Augen an. „Du weißt nicht, was Weihnachten ist?“, fragten sie wie aus einem Mund.

Ich schüttelte verlegen den Kopf und fühlte mich furchtbar unwissend.

„An Weihnachten ist Gott geboren, der uns alle rettet, und deswegen bekommen wir da Geschenke. Aber nur, wenn wir das Jahr vorher brav waren“, erklärte Thomas.

Es brauchte eine ganze Weile und viele Fragen, bis ich halbwegs verstanden hatte, worum es bei diesem Fest ging. Es war nicht zu übersehen, dass Maria und Thomas vor allem wegen der Geschenke aufgeregt waren.

„Ich hätte auch so gerne ein Geschenk“, sagte ich schließlich, „aber ich weiß nicht, ob ich dafür brav genug gewesen bin.“ Ich dachte an die vielen Male, die Gwenwyn und die anderen Gargoyles mich gescholten hatten, weil ich zu wild mit den Kindern getobt oder Streiche gespielt hatte.

„Aber du bist doch gar kein Christ“, sagte Maria, „nur Christen kriegen an Weihnachten Geschenke.“

„Wirklich?“ Meine Enttäuschung war nicht zu überhören.

„Natürlich. Bis morgen, Gondolin!“ Maria zog ihren kleinen Bruder mit sich, weil ihre Mutter nach ihnen gerufen hatte.

Ich blieb verwirrt und traurig zurück.

In dieser Nacht fragte ich Gwenwyn ungezählte Löcher in ihren steinernen Bauch. Als ich wissen wollte, ob an Weihnachten wirklich nur Christen Geschenke bekommen, entgegnete sie, dass sie sich nicht so gut mit diesem Brauch auskenne. Und mit meiner Frage, ob ich nicht einfach Christ werden könne, stieß ich eine lange Debatte unter den Gargoyles an. An deren Ende hatte ich wenig verstanden, war aber zu dem Schluss gekommen, dass wohl nur Menschen Christen werden konnten.
 
In den kommenden Tagen verspürte ich wenig Lust, mit Thomas und Maria zu spielen. Ich versteckte mich, wenn sie nach mir riefen, oder gab vor, keine Zeit zu haben. Sie versuchten nie lange, mich zu finden oder umzustimmen, sondern spielten stets bald in ungetrübter Fröhlichkeit ohne mich. Stundenlang blickte ich heimlich durch die Fenster in die Wohnhalle und fühlte mich ausgeschlossen. Besonders wenn die ganze Familie um die wunderschöne Kerze versammelt war.

Schließlich kam der heilige Abend. Ich erkannte das daran, dass alle Bewohner der Burg ihre feinsten Gewänder anlegten und sich herausputzten, noch bevor der Tag anbrach. Als wir nach Sonnenuntergang erwachten, herrschte reges Treiben. In der Küche wurde ein denkwürdiges Festmahl zubereitet, Thomas und Maria flitzten zwischen Köchin und Mägden herum und naschten ausgiebig. Meine Stimmung war auf dem Tiefpunkt.

Irgendwann hörte ich Gwenwyn nach mir rufen. Als ich mürrisch neben ihr landete, sagte sie: „Komm, Gondolin, wir gehen Weihnachten feiern.“

Ich blickte sie und die vollzählig versammelten Gargoyles misstrauisch an.

„Die Herrin hat uns soeben eingeladen, mit ihnen zu feiern. Sie sagte, wenn Ochs und Esel bei der Geburt ihres Gottes dabei sein durften, gäbe es keinen Grund, warum Gargoyles nicht mit Weihnachten feiern dürfen sollten.“

Ich war nicht ganz überzeugt, folgte aber den anderen in die Halle. Licht, Wärme und der Geruch von allerlei Köstlichkeiten empfingen uns dort. Und Maria und Thomas kamen direkt auf mich zugestürmt.

„Gondolin! Wie schön, dass ihr Weihnachten mit uns feiert! Ich hatte mir das so gewünscht, aber wir hatten Angst, Vater zu fragen, weil ihr doch keine Christen seid und wir unbedingt brav sein wollten“, sprudelte es aus Thomas heraus.

Als mir dann Maria noch einen Kuss auf die Nase drückte, war ich versöhnt.

Nicht oft in meinem Leben habe ich so ausgelassen gefeiert wie an jenem Abend. Wärme und Licht, sowohl in der Halle als auch in unseren Herzen, sind meine ausgeprägtesten Erinnerungen an mein erstes Weihnachtsfest. Wir ließen uns Braten mit Soße, eingelegtes Obst und süßes Gebäck schmecken, sangen und musizierten. Schließlich saßen wir alle – die Familie, ihre Bediensteten und wir Gargoyles – um die Kerze und der Vater sprach ein Gebet der Dankbarkeit, das jeden einzelnen von uns einschloss. Dann erhielten Thomas und Maria und die Kinder der Diener Geschenke. Was sie bekamen, habe ich vergessen, aber nicht das Leuchten in ihren Augen. In diesem Moment trübte ein wehmütiges Stechen meine Freude ein wenig. Dennoch fühlte ich mich glücklich und erfüllt, als die aufgehende Sonne mich, viele Stunden nachdem die Menschen sich zu Bett begeben hatten, versteinerte.

Und als ich mit der Nacht erwachte, da lag ein kleines, in sauberes Packpapier gewickeltes Päckchen vor mir. Hastig wickelte ich es aus und fand darin einen Stoffstreifen, gerade lang genug, um ihn mir um den Hals zu knoten, und einen Stein, der im Mondlicht silbern glitzerte. So hatte ich also doch noch ein Geschenk erhalten, mein Geschenk. Ich war glücklich.

 

Bis in einer Woche

Euer Gondolin

 

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